Das Loch in der Straße

-Wir tappen immer wieder in die Gewohnheitsfalle-

Im Laufe unseres Leben eignen wir uns verschiedene Gedanken- und Verhaltensmuster an. Vor allem, wenn wir noch ganz jung sind -so ab unserem fünften, sechsten Lebensjahr- programmiert sich unser Gehirn wie eine Festplatte mit all unseren  Erfahrungen, die wir im Leben machen.

Sei es, dass wir unsere Eltern, Großeltern, Lehrer, Freunde beobachten und uns deren Verhalten abgucken oder Reaktionen auf unsere Verhaltensweisen interpretieren und diese z.B. im Sinne von „Ich muss das tun oder mich so verhalten, um gemocht zu werden oder in Harmonie mit anderen zu leben!“.

Manchmal haben wir auch direkte Botschaften erhalten, die wir uns angenommen haben wie z.B. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“, „Sei lieb und brav“, „Eigenlob stinkt“ oder „Du schaffst das eh nicht“. Je älter wir werden, festigen sich unsere Denk- und Verhaltensmuster. Das führt oft dazu, dass wir uns gar nicht hinterfragen, ob unsere Gedanke oder  Verhaltensweisen gut und hilfreich für uns sind.

Oft bemerken wir negative Gedanken oder Verhaltensmuster erst, wenn wir mit anderen Menschen in Beziehungen sind, häufig ähnliche Konflikte haben oder gesundheitliche Probleme entstehen.

Ungünstige Denk- und Verhaltensweisen sind in der Regel fest verankert und laufen automatisch ab.

Erst im Erwachsenenalter spüren wir,  entweder aus der Liebe zu uns selbst oder weil der innere Druck zunimmt, etwas ändern zu müssen. Wir fangen an, unser Denken und Handeln ehrlicher zu hinterfragen. Gewohnheiten, die über Jahre antrainiert wurden, müssen zunächst einmal erkannt werden. Erst nach der Bewusstwerdung können wir Veränderungen einleiten. Das tun wir, in dem wir neue Erfahrungen zulassen, mit denen wir alte Muster überschreiben können.

Anstelle der eigenen Selbstreflexion ist es oftmals leichter, die Schuld für Probleme im Außen zu suchen. Dann werden den Eltern, den Partnern oder dem Chef die Schuld für die eigenen Unzulänglichkeiten, den Fehlern und Schwierigkeiten zugesprochen. Fakt ist, die Vergangenheit und andere Menschen können wir nicht ändern. Die Lösungen für neue Erfahrungen, Denk- und Verhaltensmuster liegen immer nur in uns. Das macht Veränderungen bzw. das Erlernen neuer Denk- und Verhaltensweisen nicht leichter, gibt uns aber das Gefühl, aktiv eigene Bedürfnisse erfüllen zu können und sich als selbstwirksam zu erleben. Wir sind keine Opfer der Umstände und von keinem abhängig, wenn wir erwachsen sind.

In unseren Köpfen sollten wir immer überprüfen, ob wir eigene Ketten um uns herum legen, uns klein halten oder uns in schwierige und ungesunde Beziehungen und Situationen begeben, so dass unsere zwischenmenschlichen und individuellen Bedürfnisse nicht erfüllt werden.

Das folgende Gedicht zeigt eindrücklich, wie leicht es ist, aus der Gewohnheit heraus, immer wieder automatisch in bekannte Denk- und Verhaltensweisen hineinzufallen, die uns nicht gut tun. Durch mehr Selbstreflexion oder den Austausch mit Freunden oder einem Therapeuten, kann man diese „Gewohnheitslöcher“ für sich wahrnehmen, identifizieren und verändern.

Eine gute Portion Ehrlichkeit und Selbstliebe braucht es, um den eigenen sicheren und haltgebenden Weg zu finden.

Loch in der Straße

I

Ich gehe eine Straße entlang.

Im Bürgersteig ist ein tiefes Loch.

Ich falle hinein.

Ich bin verloren… bin hilflos.

Es ist nicht meine Schuld,

dort hineingefallen zu sein.

Ich brauche sehr lange, um den Weg nach draußen zu finden.

II

Ich gehe die Straße entlang.

Im Bürgersteig ist ein tiefes Loch.

Ich tue so, als ob ich es nicht bemerken würde.

Ich falle wieder hinein.

Ich kann nicht verstehen, weshalb ich wieder hineingefallen bin.

Es ist meine Schuld.

Es dauert immer noch sehr lange, um den Weg nach draußen zu finden.

III

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Im Bürgersteig ist ein tiefes Loch.

Ich bemerke es.

Trotzdem falle ich hinein.

Das Hineinfallen ist eine vertraute Gewohnheit.

Meine Augen sind jetzt offen.

Ich weiß, wo ich mich befinde.

Ich bin dafür verantwortlich und finde den Weg nach draußen sofort.

IV

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Im Bürgersteig ist ein tiefes Loch.

Ich weiche aus und falle nicht mehr hinein.

V

Ich wähle eine andere Straße.

Gedicht: Nach der „Autobiographie in fünf Kapiteln“ vom buddhistischen Mönch Nyoshul Khenpos, zitiert in Sogyal Rinpoche: Das tibetische Totenbuch vom Leben und Sterben: Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod.

Bildnachweis: ID 906023 © Noelle Otto | pexels

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